Jedes Jahr am 1. Mai fallen morgens Zehntausende in die enge Stadt Weimar ein. Nicht etwa um auf der DGB-Kundgebung auf dem Marktplatz das Bier zum Achtstundentag anzustechen. Da ist immer keiner. Ein Ergebnis der unermüdlichen Anstrengungen der letzten versprengten Gewerkschaftler, die Kollegen mit hilflosen Ansprachen und ausgesucht miserablen Rockbands abzustumpfen.

Die Leute kommen, um erst den alljährlichen, gigantischen Flohmarkt zu besuchen und anschließend das legendäre Seifenkistenrennen. Erfunden haben dieses Rennen Anfang der Neunziger die Hausbesetzer aus der Gerber 3, irgendwann wurde es populär und die Gerber-Leute überließen die ganze Gaudi den Spacekid Headcup-Kids der Bauhaus-Universität. Zuletzt gab es immer wieder Probleme mit Startern der schicken Weimarer Grünen-Szene, die partout nicht verstehen konnten, warum mit riesigen Batterien betriebene Boliden bei einem Seifenkistenrennen nicht mitmachen dürfen.

Ebenso anziehend wie der Spacekid Headcup ist der angesprochene Flohmarkt, der sich vom Marx-Engels-Denkmal vor dem Deutschen Nationaltheater über den Goetheplatz bis zum Graben erstreckt. Die Händler blockieren schon über Nacht die Standplätze und ab zehn Uhr morgens ist unerträgliches Gedränge, kein Durchkommen mehr, weshalb ich diesen Flohmarkt noch nie besucht habe. Das wird in diesem Jahr anders: Wir werden dort am 1. Mai Frei-Exemplare einer verfassungsschutzgeprüften Tageszeitung verteilen, die der ganz ähnlich sieht, die sie freundlicherweise gerade zu lesen vorgeben.

Letztes Jahr im Frühling war ich, nur mal so, auf einem anderen Weimarer Flohmarkt, dem auf dem E-Werk-Gelände, wo es malerisch postindustriell und nicht so überfüllt ist. Dort treffen sich regelmäßig die hiesigen LastenfahrradfüherInnen, um zu feilschen, zu ratschen und darauf zu achten, dass niemand die selbstgebatikten Kinder daran hindert, ältere Kinderlose zu terrorisieren. Davon abgesehen war es toll. Da drängten die Leute nicht, sondern liefen befreit herum. Ich wollte mir das ansehen, wie die Leute so befreit herumlaufen, aber man konnte sich nirgendwo hinsetzen. Also bin ich weiter gegangen, um einen Stuhl zu kaufen. Aber niemand hat einen Stuhl verkauft. Es gab nur wenige Stühle und auf den wenigen Stühlen saß immer jemand. Als ich drei mal die Runde gedreht hatte auf der Suche nach einem Stuhl, habe ich aufgegeben und mich in die Schlange gestellt, in der man auf die Suppe warten konnte. Die noch nicht fertig war. Ich bekam ein Radler. Es war schön auf dem Hippie-Flohmarkt auf dem E-Werk-Gelände. Es sollte nur mehr Stühle geben für ältere Herren.

(Weimar, 9. April 2018)